SANJO, die konduktive Körpertherapie, wurde Mitte bis Ende der Neunziger Jahre von Holger Michael David begründet. Er beschreibt die Entstehung dieser sanften Form der Körperarbeit so:

 

„Ich gab in meiner Praxis viele Shiatsu-Behandlungen und wunderte mich immer wieder, wie hart die Außenseiten der Beine bei meinen Patienten waren. Hier verlief der Gallenblasenmeridian, doch ich konnte nicht glauben, dass sie alle hier einen energetischen Stau im Meridian hatten. Mein Eindruck war, dass ich vor lauter Härte den Meridian gar nicht genau spüren und in seiner Qualität beurteilen konnte.

Ich suchte einen Zugang zum Gallenblasenmeridian und begann mit den Beinaußenseiten zu experimentieren. Dabei passierte eines Tages folgendes: Ich schob die Muskeln der Beinaußenseite zusammen und hielt dies für eine Weile aufrecht. Dabei entspannten plötzlich die Muskeln unter meinen Händen und ich konnte den Meridian erspüren. Ich probierte diesen Effekt sofort an dem anderen Bein auch aus und erhielt das gleiche Ergebnis. Das hatte ich mit Dehnungen, wie sie im Shiatsu üblich sind, bislang nicht in dieser Deutlichkeit erreichen können.

Für eine Weile versuchte ich in Behandlungen diesen Effekt zu wiederholen und musste einsehen, dass mir dies manchmal gelang, aber nicht immer. Nun begann ich näher zu erforschen, was dahinter steckt und wieso es manchmal spontan sehr gut funktioniert und manchmal überhaupt nicht.

Zunächst einmal fragte ich mich, was ich da eigentlich machte. Ich verkürzte den Muskel, sehr sanft, aber doch so, dass damit die Strecke, über die sich der Muskel erstreckt, deutlich verkürzt wurde. Ich begriff: Im Grunde machte ich die Arbeit des Muskels. Kein Wunder, dass er sich entspannte, wurde doch seine Arbeit jetzt von außen von mir erledigt. Demnach musste also das Gehirn den Muskel „abschalten“, ohne das ich ihn von außen manipulierte, etwa durch eine Massage oder energetische Beeinflussung. Allein der Umstand, dass die Arbeit erledigt wurde reichte aus das Gehirn zu veranlassen, den Muskel in die Entspannung zu schicken.

Nun versuchte ich diesen Effekt auch an anderen Körperstellen bei anderen Muskeln zu reproduzieren. Auch dies gelang, aber nicht immer. Zu dieser Zeit schrieb meine damalige Frau an einer Arbeit zur Sensorischen Integration, einer Therapieform im Bereich der Ergotherapie und der Physiotherapie, in der sie sich fortbildete. Ihre handschriftlichen Skripte tippte ich ein und lernte dabei ein paar Dinge, die mir erklärten, was ich in der Körperarbeit entdeckt hatte.

Ab der 10. Schwangerschaftswoche hat der Embryo bereits seine drei Basissinne in Ansätzen ausgebildet. Er verfügt über den Vestibulären Sinn (Gleichgewichtssinn), der ihm Information darüber gibt, wie seine Lage im Raum ist. Taktile (oberflächensensible) Rezeptoren in der Haut liefern Informationen darüber, wo der Körper aufhört und die Außenwelt anfängt. Und schließlich der propriozeptive (tiefensensible) Sinn mit Rezeptoren in den tiefen Muskelschichten und an den Muskelansätzen, der Informationen liefern über die Stellung der Körperglieder zu einander.

Alle drei Sinne sind ständig offen und geben dem Gehirn wichtige Informationen über den Körper und seine Lage. Allerdings ist die Anzahl der taktilen und propriozeptiven Rezeptoren im menschlichen Körper gewaltig. Wenn jeder der vorhandenen Rezeptoren eine Standleitung zum Gehirn bekäme, müsste das menschliche Rückenmark so dick wie ein Elefantenrüssel sein. Um die Informationsflut einzuschränken, muss es also sinnvolle Regeln geben.

Eine solche Regel scheint folgende zu sein: Es darf nur der Rezeptor weitermelden, der etwas Neues zu melden hat. Ist die Information alt und wiederholt sich nur noch, wird sie anscheinend unterdrückt. Erst wenn einen neue Information anliegt, wird diese neu gemeldet. In der Zwischenzeit merkt sich das Gehirn einfach, wie die Körperglieder zu einander lagen. Was machen wir, wenn wir uns spüren wollen, zum Beispiel nach längerem Sitzen oder nach einem Schläfchen? Wir bewegen uns und spannen uns an. Damit erzeugen wir wieder frische Information und unser Gehirn weiss dann, wo sich die Körperteile befinden.

Wenn nun ein paar Sekunden lang immer die gleiche Meldung hintereinander eintrifft, wird sie anscheinend abgeschaltet und erreicht das Gehirn nicht mehr. Nun hatte ich den Grund gefunden, warum meine Zusammenführungen von Muskeln manchmal funktionierten und manchmal nicht. Wenn ich die Arbeit des Muskels zwar von außen erledigte, dies dem Gehirn aber nicht mehr gemeldet wurde, konnte das Gehirn auch nicht den Muskel abschalten. Es war einfach schlecht informiert.

Ich überlegte, wie ich das Gehirn mit frischen Informationen versorgen konnte. Beim Shiatsu ist es üblich rhythmisch zu arbeiten. Ich probierte dies, während ich einen Muskel zusammenschob. Dabei stellte ich fest, dass der Körper des Behandelten um so eindeutiger reagierte, wenn ich den rhythmischen Impuls sehr fein gestaltete. Letztlich reichte es aus mit einer minimalen Bewegung dafür zu sorgen, dass das Gehirn weiterhin eine Meldung aus dem Gebiet des Muskels erhielt und nicht die Leitung abgeschaltet wurde.

Dann beschäftigte ich mich weiter mit den Muskeln. Ihre Aufgabe ist es ein Gelenk zu bewegen. Wenn ich nun mit meinen Händen oberhalb und unterhalb eines Gelenks, zum Beispiel des Handgelenks, Kontakt aufnahm und das Handgelenk sanft zusammenführte, erreichte ich damit alle Muskeln, die vom Unterarm kommend über das Handgelenk hinweg zur Hand und den Fingern führte. Ich musste mich gar nicht mehr um den Verlauf des Muskels kümmern, allein die Zusammenführung im Gelenk brachte den gleichen Effekt. Darüberhinaus konnte ich so viel mehr Muskeln mit einem einzigen Griff erreichen, denn es reagierten alle Muskeln, die über das Gelenk hinweg angelegt waren.

Ich begann mich für die genaue Stellung der Gelenke zu interessieren und probierte verschiedene Möglichkeiten der Zusammenführung der Gelenkflächen im Gelenk aus. Auch hierbei war es bedeutsam einen kleinen rhythmischen Impuls zu setzen, der über den propriozeptiven Weg das Gehirn laufend informierte. Dagegen war es nicht bedeutsam die genaue Lage und den Verlauf einzelner Muskeln zu kennen. Es genügte, wenn sie verkürzt wurden und dies im Gehirn registriert wurde.

Bei den Wirbeln der Wirbelsäule traf ich dann auf die paravertebralen Muskeln. Dies sind sehr kleine, direkt von Wirbel zu Wirbel gehende Muskeln. Ihre Aufgabe ist offensichtlich den einzelnen Wirbel zu seinen benachbarten Wirbeln in die richtige Stellung zu bringen. Darüber liegt dann die Muskelgruppe, die man als die autochthone Rückenmuskulatur bezeichnet. Der Begriiff „autochthon“ ist dem Griechischen entlehnt und bedeutet der „selbst-erregte“. Vermutlich hat mal jemand bei einem Bewusstlosen den Rücken gefühlt und festgestellt, dass genau diese von außen fühlbaren Muskeln noch erregt waren, obwohl das Gehirn offensichtlich „außer Funktion“ war. Bei einem Bewusstlosen ist aber nicht das ganze Gehirn gestört, sondern nur das Großhirn. Das Kleinhirn und das Mittelhirn können davon unbetroffen sein. In diesen Bereichen werden unsere Vitalfunktionen koordiniert. Hierzu zählen Herz und Kreislauf und die Mindestversorgung aller wichtigen Körperteile. Hierzu zählen aber auch die Muskel, die wir für unsere Stabilität brauchen.

Die Bewegungsmuskeln, die im Rücken die dritte äußerste Schicht bilden, werden vom Großhirn regiert. Sie können wir willkürlich bewegen, die tieferen Schichten der Muskeln, die für Stabilität zuständig sind, dagegen nicht. Wir haben also zwei Hirne, Kleinhirn und Großhirn, mit zwei verschiedenen Aufgaben: Stabilität und Beweglichkeit. Beides muss in einem ausgewogenen Verhältnis miteinander sein. Wenn wir sehr stabil sind, schränkt dies unsere Beweglichkeit ein und wir erleben dies als Steifheit. Wenn wir überbeweglich sind, ist unsere Stabilität eingeschränkt und wir verrenken uns leicht. Der Körper hat also ein fundamentales Interesse daran diese beiden Prinzipien in ein ausgewogenes Verhältnis miteinander zu bingen.

In meine Praxis kam ein Patient, der einen schlimmen Verkehrsunfall mit Schleudertrauma hatte. Am Unfalltag selber fühlte er sich noch gut und hatte keinerlei Beschwerden. Man hatte ihn direkt nach dem Unfall genauer untersucht und keine Verletzungen festgestellt. Dennoch war etwas in ihm verletzt: Die Regel, wieviel Abstand zwischen zwei Wirbeln im Nacken zu sein hat. Darüber hat das Kleinhirn sehr genaue Vorstellungen. Wird der Wert überschritten, weisst es seine „Arbeiter“, die paravertebralen Muskeln, an, mehr zu leisten, damit das nicht mehr vorkommt. Dadurch erhöht sich der Widerstand in der Halswirbelsäule. Das Großhirn muss nun die Bewegungsmuskeln des Nackens anweisen mehr zu leisten, wenn es den Kopf drehen will. Kopfbewegungen können aber wieder die Wächter der Stabilität aktivieren, die wiederum ihre Arbeit verstärken. So kommt es, dass sich beide gegenseitig hochschaukeln und sich erst ein paar Tage nach dem Unfall das Vollbild eines Schleudertraumas ergibt.

Ich behandelte den Mann, indem ich seine Halswirbelsäule sanft zusammenschob und dabei in einem sanften Rhythmus bewegte. Ich spürte genau, wie hartspannig der gesamte Nacken war. Und ich half ihm ganz praktisch dabei den Nacken noch stärker zu verkürzen. So wurde ich quasi zum Erfüllungsgehllfen seines Kleinhirns. Nach ein paar Minuten begann er in den paravertebralen Muskeln zu entspannen und ich spürte, wie sein Nacken wieder Vertrauen fasste. Nach einer halben Stunde lag sein Nacken vollkommen entspannt da. Dabei hatte ich in keinster Weise die Bewegungsmuskeln des Nackens massiert oder auf andere Weise versucht sie im Tonus zu senken. Offensichtlich reichte es vollkommen aus, wenn man die Seite der Stabilität unterstützt, die Seite der Beweglichkeit ist nachrangig.

Ich überlegte, warum dies so ist und fand zwei Gründe. Erstens scheint es so zu sein, dass im Körper die Stabilität vor der Beweglichkeit rangiert. Wenn eine Gefügelockerung und damit eine Instabilität droht, reagiert der Körper mit einer Art „Kurzschluss“ in der Muskulatur und weist alle Muskeln in dem betroffenen Gebiet an, sich anzuspannen und somit eine weitere Gefügelockerung zu verhindern. Passiert dies plötzlich, nennt man dies reflektorischen Hartspann oder im Volksmund „Hexenschuss“. Zweitens fiel mir mal auf, dass ich nach einer Lockerung meines Nackens in einer Shiatsugruppe bei der anschließenden Gruppenrunde meinen Kopf anfangs zu weit nach rechts und links drehte, wenn ich jemanden, der gerade sprach, ansehen wollte. Offensichtlich war mein Großhirn noch nicht darauf eingestellt, dass mein Nacken lockerer war als noch vor einer Stunde. Also drehte mein Kopf sich bei dem „normalen“ Aufwand einfach ein Stück weiter als vorgesehen. Dies wurde aber sehr schnell korrigiert und mein Großhirn stellte sich sofort darauf ein, dass es jetzt weniger tun musste, um eine bestimmte Kopfwendung zu erreichen.

Dies hat zur Folge, dass man eigenlich nur das Kleinhirn anregen muss die Muskeln der stabilisatorischen Seite zu entlasten. Das Großhirn mit dem Auftrag bestimmte Bewegungen auszuführen stellt die Muskeln dann darauf ein und entspannt sie auch. Der Abrüstungprozess geht also von der Seite aus, die ich für vorrangig halte: die stabilisatorsche Seite.

Dann fiel mir auf, wie angespannt viele Menschen in den Muskeln der Arme und Beine auch in Ruhe sind. In den Unterarmen finde ich oft bei Erwachsenen einen Ruhetonus, der über 50% dessen liegt, was der Muskel bei voller Anspannung leistet. Warum ist dies so? Ich vermute, dass sich hier das Kleinhirn und Zentren im Mittelhirn als Wächter der Stabilität bei den regulären Bewegungsmuskeln bedienen. Über den Grundtonus der antagonistischen Muskulatur erreichen sie eine Grundstabilität, die ausreichend ist. Ansonsten scheinen Arme und Beine mehr für Bewegung gemacht zu sein, der Korpus dagegen ist Heimat und Sitz der inneren Organe.

Ich experimentierte mit allen Gelenken und den verschiedenen Muskeln auf der Grundlage der theoretischen Annahmen, die ich machte. Es funktioniert in allen Gelenken. Dabei ist kein großer Druck notwendig. Es scheint im Gegenteil den meisten Menschen eher möglich zu sein die Stabilität im Körper zu senken, wenn der Druck nur gering ist. Auch haben sich sehr langsame Bewegungen in der Praxis als vorteilhafter herausgestellt, weil dann das Gehirn den Ablauf und die Bewegungen besser kontollieren kann, als bei schnellen und ruppigen Bewegungen. Da schnelle und ruppige Bewegungen auch eher zu Instabilitäten führen können, ist es verständlich, warum das Kleinhirn sich dadurch nicht so eingeladen fühlt die ihm unterstehende Muskulatur im Grundtonus zu senken.

Wenn ich gefragt wurde, was ich da eigentlich mache, sagte ich anfangs, ich führe Gelenke zusammen und ich schaukel ein bisschen hin und her. Das klang nicht sehr seriös und ich sah manche Falte auf der Stirn des Fragestellers. Daraufhin beschloss ich mich des in medizinischen Dingen etablierten genaueren Umgangs mit Sprache zu bedienen. Nun konduziere ich Gelenke und setze rhythmische Impulse. Seitdem bleibt so manche Stirn glatter, wenn mich jemand fragt, was ich eigentlich bei der Konduktiven Körpertherapie mache. Wenn Sie allerdings wissen wollen wie das aussieht, stellen Sie sich jemanden vor, der Gelenke zusammenschiebt und dabei ein bisschen hin und her schaukelt.

„Konduktive Körpertherapie“ ist ein zwar zutreffender, aber nicht sehr griffiger Name. Da ich über das Shiatsu eine Affinität zu Japan habe, stöberte ich nach Wörtern und Wortschöfpungen in einem japanischen Wörterbuch. Ich entschied mich für die beiden japanischen Wörter SAN und JO. SAN bedeutet soviel wie „Lob, Zustimmung“ und JO soviel wie „helfen, retten“. In der Wortzusammensetzung gibt es den Sinn: durch Zustimmung zu retten. Mit „SanJo“ wird im japanischen auch jemand bezeichnet, der als stiller Förderer im Hintergrund wirkt.

Dieses Bild passt zur Konduktiven Körpertherapie. Ich unterstütze als SANJO-Therapeut im Grunde das Kleinhirn bei seiner Aufgabe und sorge von außen für eine erhöhte Stabilität. Dies führt zur Entlastung und damit zur Hilfe im stabilisatorschen System. Getreu dem Motto: „Was einer erledigt hat, braucht ein anderer nicht mehr machen“.

Anfangs war ich gar nicht davon überzeugt mit SANJO eine wirklich neue Methode erfunden zu haben. Ich erzählte vielen Physiotherapeuten und Osteopathen davon und fragte sie, ob sie etwas Vergleichbares kannten. Zwar sind einzelne Teile dessen, was ich zusammen gedacht hatte, schon längst bekannt. Aber die Anordnung war neu und für manch einen gestandenen Körpertherapeuten ungewöhnlich. Die meisten waren gewohnt zu dehnen, zu manipulieren, zu mobilisieren um jemand aus dem Problem heraus zu helfen. Bei SANJO dagegen führte ich den problematischen Bereich eigentlich noch mehr ins Elend hinein! Dies ist eine paradoxe Intervention, die auf logische Art nicht zu verstehen ist. Aber ich spürte, dass dies ein durchaus möglicher und erfolgversprechender Weg ist. In einer SANJO-Behandlung kann ich immer wieder erleben, wie entlastend und verändernd es ist, seine Stabilität unterstützt zu bekommen.

Ich habe mich schon früh entschlossen diese Methode frei zugänglich zu machen und sie weiter zu verbreiten. Durch den Kontakt mit SANJO lassen Körpertherapeuten den darin enthaltenen Denkansatz in ihre Methoden mit einfließen. Andererseits bereichern sie SANJO durch ihr Wissen und ihre Erfahrung aus anderen Methoden. Es ist mein Wunsch, dass sich SANJO weiter entwickelt und dass viele Menschen mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung dazu beitragen. Daher sind alle graduierten SANJO-Therapeuten eingeladen, sich einmal im Jahr zum Austausch zu treffen und ihre Erfahrungen mit SANJO zu teilen. So wird diese Methode von vielen Menschen weiter ausgebaut, immer um den Kern der Konduktion als therapeutischer Nutzen.

Um den Therapeuten und den Menschen, die SANJO schätzen, eine Plattform zu geben, haben im Mai 2006 sechzehn Therapeuten den Verein SANJO-Gesellschaft gegründet. Innerhalb dieses Vereins wird SANJO weiter enwickelt und die verschiedenen Aktivitäten koordiniert. Eine dieser Aktivitäten ist die Unterhaltung dieser Internetseite, auf der Sie sich gerade befinden.“

Holger Michael David